Warum bin ich Reiseleiter? -Arbeit am Selbstbild
„Vor dem Gebrauch schütteln, nach dem Schütteln nicht mehr zu gebrauchen.“
Genau so fühle ich mich als Reiseleiter in meinen schlechten Momenten. Zu viele Personen haben an mir geschüttelt, so dass keine Geschichte mehr meinen Mund verlassen will und die Winkel desselben begannen sich langsam zu einer Grimasse nach oben zu ziehen. Der geübte Italienbesucher kennt bestimmt die archaischen Gorgonenfratzen zur Abschreckung. Vom Tempelgiebel blicke ich furchterregend hinab auf meine Untertanen. Die Grimasse versteinert zu einem Zerrbild meiner Person. Dort unten stehen die Reisegeäste. Sie schauen hinauf, nicht weil sie mir zuhören möchten. Sie stehen dort, weil sie für die Anleitung bezahlt haben, weil ihnen ein Erlebnis versprochen wurde, oder einfach nur aus der Ermangelung von Eigeninitiative. Schnell zerstört sich das Selbstbild als Reisleiter.
Erkenntnisablauf eines Reiseleiters
Nicht zu verschweigen gibt es die vielen Momente, in denen ich mich als die ultimative Kompetenzperson, der Gruppenkönig oder einfach nur wohl in meiner Haut fühle. Dummerweise überwiegen in der Erinnerung schnell die wenigen negativen Momente. Der Reisegast, der sich bitterböse über das Hotelzimmer beschwert, oder der Reisegast der gerade in diesem Moment feststellt, dass er nicht mehr weiter kann, wenn wir an einem abgelegenen Ort angekommen sind. Gerade am Anfang dachte ich immer zu viel an diese Momente, da sie starke Gefühle hervorrufen. Nach einem Jahrzehnt in diesem Job meine ich in der Lage zu sein, mich etwas zurückzulehnen und diese negativen Gedanken als wichtige Erfahrung abzuheften. Auch wenn es platt klingt, jede Erfahrung kann eine Gelegenheit zum Lernen sein. Und ich muss schon sagen, Gelegenheiten haben sich reichlich eröffnet. Natürlich erlaubt es meine Einbildung, mich besser darzustellen, als ich wirklich bin. Für die ereignisreichen positiven und negativen Momente habe ich mir über die Jahre einige Techniken erarbeitet, zu denen es sicherlich gehört hier nach zehn Jahren einmal über die Zeit, meine Person und meine Arbeit nachzudenken. Natürlich darf ich nicht verschweigen, dass die negativen Momente nicht die Mehrheit bilden. Alle Gefühle sind ausgewogen vertreten, so dass ich meinen Beruf weiter ausüben möchte.
Selbstbild Scharlatan
Ein Selbstbild hilft mir bei der Fragestellung, ob ich einen guter Reiseleiter sei. Wenn ich die archaische Abwehrmaske zu einer positiven Person ummünze, kommt dabei der Scharlatan heraus. Auch wenn dieser „Berufsstand“ eine negative Konnotation aufweist, beschreibt er einen großen Teil meiner Lebenswirklichkeit. Der Scharlatan erzählt den vermeintlichen Kunden, was sie höhren möchte, hat ein offenes Ohr und versteckt sich trotzdem hinter einer Maske. Natürliche will er den Zuhörern ihr Geld aus den Taschen locken, aber unser Wirtschaftssystem ist doch genau darauf aufgebaut. Somit sollte das doch nicht verwerflich sein. Der Scharlatan wartet doch auch mit guten Gefühlen, Geschichten und Erlebnis auf. Also ergibt er doch eine ganz reelle Rolle!
In diesem Zusammenhang erscheint doch gleich die nächste Frage, die ich mir immer wieder stelle. Übe ich einen Beruf aus. Es als Berufung zu bezeichnen, rechtfertigt eigentlich nur die mittelmäßige Bezahlung. Ich fühle mich oft wie meine Großmutter, die mich fragte was ich denn für einen Beruf hätte. Einerseits fiel es mir immer schwer, ihr zu erklären womit ich mein Geld verdiene. Auf der anderen Seite war sie auch nicht gewillt einen Beruf zu akzeptieren, mit dem sie nicht bei den Verwandten und Nachbarn angeben konnte. Wir beließen es meist bei der gegenseitigen Liebeserklärung und dem Eingeständnis, dass wir uns nicht verstehen. Jetzt nach zehn Jahren, kann ich wohl sagen, dass es mein Beruf ist. Weil ich die Reiseleiterei vor allen anderen Tätigkeiten am längsten ausübe, habe ich mich entschieden als Beruf Reiseleiter anzugeben.
Attribute eines Reiseleiters
Damit währen wir bei dem ersten Punkt, was den Reiseleiter ausmacht. Er kann eigentlich nichts, also muss er davon erzählen. („If you can´t do it, teach it!“) Oder beherrschst er etwa zu viel, dass er sich nicht festlegen kann. Beides führt zu dieser unsteten Tätigkeit. Bei der Vorstellungsrunde beherrsche ich es mittlerweile, die Gäste von meiner Vielfältigkeit und Kompetenz zu überzeugen. Die Vorstellungsrunde beginnt mit der Eigenwerbung des Reiseleiters. Ein guter Reiseleiter flößt seinen Gästen Ehrfurcht vor seiner Person ein, damit sie sich schon einmal daran gewöhnen die gesamte Reise an seinen Lippen zu hängen. Er wird eindeutig die Person sein, die am meisten redet in den nächsten zwei Wochen. Ebenso muss der Reiseleiter gleich zu beginn seine soziale Kompetenz unter Beweis stellen, da sich die Reisegäste ja durchaus auch kennenlernen sollen. Je mehr die Gäste miteinander klar kommen und eine Gruppe bilden, desto einfacher wird die Aufgabe des Reiseleiters.
In Rom lauschte ich einmal einem amerikanischen Guide, der am Ende seiner Führung ausholte, was es alles morgen zu sehen gebe, wenn sich jemand seiner Gruppe wieder anschlösse. Ich war aufgrund dieser langen, ausholenden Eigenwerbung entfremdet. Sie bestand aus emotionaler Ansprache und Aufforderungen, da er immer wieder die Besucher zu motivieren suchte. Es mag wohl typisch amerikanisch sein, in dieser Form und Kunden zu werben. Mir jedenfalls ist dies als eher linkischem Charakter ziemlich fremd.
Die Frage, ob ich meinen Gästen einen guten Reisebegleiter abgebe, wage ich nicht zu beantworten. Ich stelle sie mir in regelmäßigen Abständen, verliere aber die Antwort in mehr Fragen, die dabei auftauchen, als an wirklichen Antworten. Zu mehr als ein paar Indizien bin ich noch nicht gekommen. Die Arbeit mache ich seid über zehn Jahren mit Reisegruppen und noch länger mit Schulklassen im Museum. Ich werde weiterhin gebucht. Und ich habe durchaus positives Feedback. Also sieht das schon mal ganz gut aus, um mich nicht in ein tiefes Loch zu stürzen und über einen Karrierewechsel nachzugrübeln. Wie sie vielleicht aus den ersten Sätzen erraten können, bewerkstellige ich dies auch ohne Lebenskrise.
Woher kommt ihre Liebe zu Italien?
Eine wiederkehrende Frage, die mir schon mancher Reisegast stellte und in mir immer ziemlich gemischte Gefühle hinterließ. In der Situation kann ich schlecht auf die Frage antworten, dass ich Italien nicht liebe. Damit stöße ich den Frager eindeutig vor den Kopf. Er hat sich ja dieses ideale Bild von mir erschaffen, welches ich doch nicht zerstören möchte. Auch wenn es nicht der Realität entspricht, trägt es zu meiner Stellung als Gruppenleiter bei. Die Antwort beinhaltet dann auch erst mal die Zustimmung zu der Aussage, gefolgt von einer geläufigen Erwiderung. Meine Ausführungen beziehen sich dann auf meine Ausbildung bei einem Italienspezialisten, meine vielen Aufenthalte im Land und natürlich auf das Essen, welches wirklich mein Zugang zu einer Kultur darstellt. In dem Momenten, wenn ich dies erläutere, komme ich mir wie ein großer Lügner vor. Mein Zugang zu Italien hat mit viel Zufall, Gewöhnung und Bedarf zu tun. Es könnte genauso ein anderes Land sein. Ich beschäftige mich seid Jahren mit Spanien und Lateinamerika. Aber ich leite keine Reisen dorthin, weil es mir noch nicht angeboten wurde.
Natürlich bin ich gern in Italien und mag die Vielfältigkeit, die Kultur und Geschichte der verschiedenen Bereiche. Dabei muss ich mir aber nicht bewusst machen, dass ich das alles als Deutscher sehe und auch weiterhin so sehen möchte.
So wieviel Klarheit habe ich beseitigt? Die Reiseleiterrei macht mir weiterhin Spass und ich bin gerne in Italien, Sizilien und Großbritannien.
Liebe Grüsse Alexander Emmert